Donnerstag, Februar 17, 2005

Als Alex seine Droogs wiedererkennt

Alex: "It's impossible! I can't believe it!"
Georgie: "Evidence of the ol' glassies! Nothing up our sleeves, no magic little Alex! A job for two who are now of job age! The police!"

(aus: www.imdb.com)

Jeder Kinofreund hat Bekanntschaft mit einigen von Stanley Kubrick's Werken gemacht, setze ich mal voraus. Eine Wortmeldung? Ja, ich sehe Sie, Sie brauchen nicht zu winken, ich habe Sie bereits gesehen... Mein Gott, Sie haben vielleicht gewaltige Hasenzähne. Nun, was wollen Sie? Mein Konzept für diesen Eintrag gerät durcheinander, wenn Sie mich unterbrechen. Also, stellen Sie bitte schnell Ihre Frage.

"Ich wollte nur sagen, dass ich ein paar Kubrick-Filme gesehen habe, und ich finde, dass er den Eindruck macht, als ob er sexuell frustriert sei?"

Ich weiß jetzt nicht, worauf die Dame anspielen möchte, aber mir schwant, dass sie sich beim Betrachen eines Kubricks nicht von ihren persönlichen Zwängen und Bedürfnissen befreien kann. Lachen Sie nicht, meine Herrschaften, lachen Sie nicht. Diese Dame zeigt die Grenzen auf, die Grenzen, die einem so akribisch arbeitenden Künstler wie Kubrick aufgezwungen werden, wenn seine ambitionierten Werke schließlich das Massenpublikum erreichen. Stehen Sie bitte noch einmal auf, meine Dame. Ich möchte, dass Sie wissen, dass wir Ihnen für Ihren Einwurf dankbar sind. Ja, klatschen Sie, ein Applaus für die Dame... Ordner, ja, führen Sie sie bitte hinaus. Danke.

"There was me, that is Alex, and my three droogs, that is Pete, Georgie, and Dim, and we sat in the Korova Milkbar trying to make up our rassoodocks what to do with the evening. The Korova milkbar sold milk-plus, milk plus vellocet or synthemesc or drencrom, which is what we were drinking. This would sharpen you up and make you ready for a bit of the old ultra-violence."

So, wo war ich stehen geblieben? Sehen Sie, das passiert, wenn man unterbrochen wird. Jetzt fällt's mir wieder ein: Mein Konzept für diesen Eintrag ist es, eine Szene, die bei mir nachhaltigen Eindruck hinterließ, noch einmal Revue passieren zu lassen, und versuchen zu erklären, warum es sich so verhielt. Bitte stehen Sie noch nicht auf, es kann durchaus interessant werden. Eingangs habe ich den Dialog gesprochen, aus "Clockwork Orange", den ich zum ersten Mal in Teenager-Jahren gesehen habe, und damals bedingt durch pubertär-maskuliner Verhaltensmuster aufgrund seiner Gewaltdarstellung supercool finden musste. Doch auch im Nachhinein hat dieser Film in geradezu traumatischer Weise eine besondere Stellung in meiner Cineasten-Trophäen-Sammlung (zu deutsch: Gesehen-hab'-Liste) eingenommen. Kubrick bringt uns in die Situation, sich mit der Gewalttätigkeit von Alex und seinen Droogs zu identifizieren, und sich angesichts des grausamen "Singin' in the Rain"-Überfalls zu amüsieren, bevor er es uns mit einem Griff in unser Eingeweide derb - aber ambivalent - heimzahlt. Während wir uns noch von unserem fröhlichen Hooligan-Dasein erholen, befinden wir uns bereits in "the real weepy and like tragic part". Immer wieder werden wir in unserer Hoffnung bestärkt, dass Alex doch noch eine Chance hat resozialisiert zu werden, und dass wir uns am Ende nicht so unwohl in unserem Gewissen fühlen müssen. Und immer wieder wird diese zerstört, mit Beginn der Ludovico Treatment Technique beschleicht uns allmählich die Gewissheit, dass die Handlung kein Entkommen zulassen wird, dass der Regisseur uns bis zum Ende virtuos quälen wird.

Entlassen vom Gehirnwäsche-Programm, muss sich Alex in der Welt draußen jedes Mal übergeben, sobald er sich gedanklich mit Gewalt oder Sex auseinandersetzt, wird von seiner Familie nicht wiederaufgenommen. Als er sich umbringen will, wird er von einem Obdachlosen entdeckt, einst Opfer der Droogs, der sich nun zusammen mit seinen Freunden an ihm rächt. Alex wird von zwei Polizisten gerettet, die sich als seine alten Freunde herausstellen, die ihn ebenfalls in die Mangel nehmen und ihn dann erschöpft bei einem anderen ehemaligen Opfer abliefern. Der anfangs zitierte Dialog entstammt der Szene, als Alex seine alten Freunde erkennt. Wie Alex wähnt sich auch der Zuschauer in Sicherheit, ein vertrautes Gefühl macht sich breit, vergessen scheint das unglückselige Schicksal des Resozialisierten, der Zuschauer wurde genug abgestraft für seine Identifikation mit der Ultraviolence der Droogs. Doch es geht weiter, denn wir wissen, dass noch nicht jedem Opfer die Gelegenheit geboten wurde sich an Alex zu rächen.

Kubrick's Kunst besteht in einer scheinbaren Ambivalenz, die den Zuschauer unwissend in eine Falle laufen lässt, die (Ambivalenz) dann nach einem klaren Schnitt in eine - auch nur scheinbar - eindeutige Stellungnahme, allerdings ohne Moralkeule, umgekippt wird, und der Zuschauer wieder in eine Falle gelockt wird. Auch wenn wir unseren "Helden", die Identifikationsfigur, verlieren, bleiben wir wundersamer bis zum Ende gebannt, und auch danach lässt uns der Film nicht los. Alex wird verurteilt, die Strafe ist grausam, und wir müssen die Strafe mit ihm durchleiden, doch zugleich findet eine Kritik an einem faschistoiden Polizeistaat statt, der mithilfe der Wissenschaft Kriminelle zu "heilen" versucht: Das Experiment scheitert bei Kubrick, im Gegensatz zur Romanvorlage von Burgess, angedeutet in der Szene von Alex' Wiedersehen mit seinen Droogs wie auch am Ende des Films - und wir müssen, aus dem Kinosessel entlassen, kräftig grübeln, für immer. Im Unterschied zu aktuellen Anti-PC-Regisseuren wie Tarantino, der am Anfang seiner Regie-Karierre zweifellos seinen Teil dazu beigetragen hat, dass sich in der allgegenwärtigen PC-Kinolandschaft plötzlich erzählerische Freiheiten auftaten - und in Filmen wie "Reservoir Dogs" ja auch Kubricks Werk von 1971 zitiert hat -, hat der britische Filmemacher nicht trotz moralischer Fehlerhaftigkeiten bis zum Ende sympathische Protagonisten und ein klares Ende bemüht, sondern den Zuschauer in 136 Minuten in jeder Hinsicht eines Halts beraubt.